Sie starrten eine Weile ratlos auf die Briefe, bis Toni auf die Idee kam, von jedem Zettel immer abwechselnd ein Wort vorzulesen. Das führte sie zur zweiten Abzweigung, die sie dann einige Minuten entlangkrochen, während das Licht der Taschenlampe langsam schwächer wurde.
Je dunkler es dadurch wurde, desto mehr strengte Mats sich an. Er hatte keine Lust, sich durch einen völlig schwarzen Gang zu tasten und dabei womöglich den Ausgang zu verpassen. Hinter sich hörte er Toni schwer und flach atmen. Auch ihm selbst lag ein unsichtbares Gewicht auf der Brust, das seine Lungen in den Schwitzkasten nahm. Er hatte das Gefühl, als ob er nicht genügend Sauerstoff bekommen würde, egal wie gierig er die stickige Luft einsog. Sein Schädel schien zu klein für sein Gehirn zu sein, es pochte in seinem Kopf und sein Körper schien flüssige Lava durch seine Adern zu pumpen.
Das Gift lässt uns wohl nicht mehr viel Zeit, dachte Mats gerade, als das honigfarbene Licht der Taschenlampe endgültig verlosch.
Toni fluchte hinter ihm und schlug mit der Faust wütend an die Wand des Schachts. Blind tasteten sie sich um eine Biegung, als Mats mit einem Mal den Halt verlor und ins dunkle Nichts fiel.
Er landete unsanft auf einem eichenfarbenen Parkettboden, und als er sich vom ersten Schreck erholt hatte, traute er seinen Augen kaum.
Sie waren in einen großen Raum gerutscht, der völlig anders aussah als der Rest ihres Gefängnisses. In der Mitte des Zimmers strahlte ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum, an dem eine kitschige Lichterkette unruhig blinkte. Große blutrote Kugeln spiegelten die kleinen Lämpchen wider und auf der Spitze trohnte ein goldener Stern. Unter dem Baum standen eine Holzkrippe und einige Pakete mit rotem Geschenkpapier und goldener Schleife. An der Wand wartete ein Klavier aus Nussbaumholz mit Noten auf jemanden, der ein Weihnachtslied spielen wollte, und in eine Ecke schmiegte sich ein altes rotes Samtsofa. Es gab eine große schwere Tür aus dunklem Holz mit einem klobigen Griff aus Messing. Doch als Mats daran rüttelte, tat sich nichts.
,,Wäre ja auch zu einfach gewesen", seufzte er. Mats und Toni verschwendeten keine Zeit und machten sich sofort daran, die Geschenke zu untersuchen. Mit schnellen Handgriffen rissen sie das Papier auf, doch darin fanden sie nur leere Kartons. Mogelpackungen. Nur ein einziges Paket hielt eine Überraschung bereit: Im kleinsten Geschenk steckte eine silberne Schatulle. Sie hatte ein winziges Zahlenschloss, an dem man drei Ziffern einstellen konnte.
Mats sah sich in dem Raum um. ,,Der Code dazu könnte überall versteckt sein", stellte er entmutigt fest.
Toni klopfte ihm auf die Schulter.
"Du musst ein bisschen glauben", sagte er und begann den runden Perserteppich vor dem Samtsofa hochzuheben.
"Das fällt mir tatsächlich schwer", seufzte Mats und betrachtete den Tannenbaum. Er musste an Lena denken, wie sie ihn schon die ganze Woche dazu überreden wollte, gemeinsam einen Weihnachtsbaum kaufen zu gehen. Sie wollte ihn in ihrem Wohnzimmer aufstellen, damit er gemeinsam mit ihr und ihrer Familie dort Weihnachten feiern konnte. Warum hatte er ihr nicht einfach die Freude gemacht?
„Ich und der liebe Gott stehen auf Kriegsfuß", erklärte er Toni, während er anfing, das Klavier zu untersuchen. ,,Und Weihnachten hab ich eigentlich seit über 20 Jahren auch nicht mehr gefeiert." Toni hielt kurz überrascht in seiner Suche inne, sagte aber nichts. Er ließ Mats Raum, um seine Erinnerungen zu sammeln.
Der atmete so tief ein, wie er konnte. Dann schilderte er in kurzen Worten das letzte Weihnachtsfest, das er als Kind erlebt hatte. Er wusste nicht genau, warum er diese intimen Details teilen wollte. Vielleicht weil er Angst davor hatte, mit einem völlig fremden Menschen zu sterben.
Toni hatte ihm aufmerksam zugehört, dabei aber beständig weitergesucht. Und als Mats seine Geschichte beendete und Toni seine blattförmige Brandnarbe auf der Hand gezeigt hatte, klopfte er Mats erst verständnisvoll auf die Schulter, bevor er leise sagte:
"Schau mal, ich glaube, hier versteckt sich unser nächster Hinweis. Er deutete auf das Klavier, das wie ein Monster mit schwarz-weißen Zähnen auf sie zu lauern schien.
1. In der Krippe
2. Im Tannenbaum
3. Im Klavier
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