Mats streckte die Zunge zwischen die Lippen, etwas das er immer tat, wenn er sich besonders konzentrieren musste, und drehte die winzigen Rädchen auf den Code 188. Denn das waren die Zahlen, die sich in den Worten "einsam", "wacht" und „Nacht" versteckt hatten.
Er spürte das Klicken mehr, als dass er es hörte, und öffnete dann den silbernen Deckel. Auf dem grünen Samt der Schatulle lagen unzählige kleine Papierfetzen. Einer davon wurde durch den Luftzug des Öffnens in die Luft gehoben und segelte trudelnd zu Boden. Toni bückte sich stöhnend und hob ihn auf. Auch ihn schien es mittlerweile einige Mühe zu kosten, auf den Beinen zu bleiben.
"Wir müssen sie bestimmt zusammenpuzzeln", stellte er nach einem prüfenden Blick auf den Zettel fest und Mats kippte den Inhalt der Schatzkiste auf die Holzdielen.
Während sie die Fetzen im blinkenden Licht der Christbaumkette sortierten, konnte Mats die Stille, die sich in dem Raum ausgebreitet hatte, nicht mehr ertragen. "Weißt du, manchmal habe ich Angst, so zu werden wie mein Vater. Es muss furchtbar für ihn gewesen sein, immer das Gefühl zu haben, dass alle dir schaden wollen. Wusstest du, dass bis zu 2% der Bevölkerung eine paranoide Persönlichkeitsstörung haben? Die Anfälligkeit dafür wird vermutlich vererbt."
"Glaubst du denn, dass ich dir etwas antun will?", fragte Toni, ohne Mats anzusehen, und schob zwei passende Schnipsel aneinander.
"Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was ich noch glauben soll." Mats seufzte tief.
„Ich kann's deinem Vater nicht verübeln, dass er in seinen Mitmenschen immer das Schlechteste vermutet hat. Die meisten sind egoistische Idioten. Kinder sind die Einzigen, die noch ehrliche Freude empfinden und anderen nicht nur helfen, weil sie sich davon etwas versprechen. Sobald die Kleinen aber von dieser Krankheit infiziert werden, die wir 'erwachsen werden' nennen, geht es nur noch ums Geld, Geld und noch mal Geld. Wen interessiert an Weihnachten schon so etwas Antiquiertes wie Nächstenliebe, wenn man die Schokolade doppelt so teuer verkaufen kann, nur weil man sie in Weihnachtsmannformen gießt? Die Menschen haben vergessen, dass es an Weihnachten darum geht, den Menschen, die man liebt, nahe zu sein, ganz in Jesus' Sinne."
In Tonis Gesicht hatte sich ein harter Ausdruck geschlichen. Spuren der Enttäuschung und Verbitterung, die sich über Jahre in seine Seele gegraben hatten. Plötzlich wirkte er nicht mehr so jung, sondern wesentlich älter und resignierter.
"Jetzt übertreibst du aber ein bisschen", versuchte Mats ihn zu beschwichtigen. "Ich meine, natürlich verdienen einige an Weihnachten viel Geld, aber deswegen sind das doch nicht gleich schlechte Menschen."
"Weißt du, was mein Vater beruflich gemacht hat? Er war ein Glasbläser. Hat Christbaumkugeln hergestellt, genau wie mein Großvater. Die Walder Christbaumkugeln waren berühmt. Von überallher kamen die Leute, um die kleinen Kunstwerke zu kaufen. Aber dann lief das Geschäft immer schlechter. Billigkugeln aus China und Osteuropa fluteten den Markt. Dass die Menschen dort für einen Hungerlohn arbeiten mussten, interessierte die Kunden in den großen Läden nicht. Fünf Jahre lang kämpfte mein Vater gegen den Bankrott. Aber irgendwann hat er einfach aufgegeben."
"Er musste schließen?", fragte Mats mitfühlend.
,,Nein. Er hat sich umgebracht. Meine Mutter hat ihn in seiner Werkstatt gefunden. Er hing an einem Ledergürtel, den er um einen Dachbalken geschlungen hatte."
Mats hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er wusste nicht, welche Worte er finden sollte, die so einem Satz folgen konnten. Da ihm nichts Besseres einfiel, sagte er nur: "Tut mir leid", und starrte auf das Rechteck aus Papierschnipseln, das vor ihnen auf dem Holzboden lag
,,Das nenn ich mal Buchstabensalat", sagte Toni und wischte damit die vorherige Unterhaltung beiseite, als ob sie nie stattgefunden hätte.
1. Zum Baum
2. Zum Sofa
3. Auf den Boden
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